50% ist das neue Ausverkauft

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2023 — wir kehren langsam wieder zur Norma­li­tät zurück. Doch ist nach mehr als zwei Jahren Corona-Pande­mie, Krieg in der Ukraine und Ener­gie­krise an den Bühnen und Thea­tern eigent­lich noch etwas normal? Die Kultur­bran­che spürt noch die Folgen der letzten Jahre. Leere Säle, unbe­legte Sitz­plätze, abge­sagte Vorstel­lun­gen, dass ist leider oft die neue Norma­li­tät. Daher heißt es an vielen Thea­tern und Veran­stal­tungs­büh­nen nun „50 Prozent ist das neue ‘Ausver­kauft’.

Warum kaufen die Leute keine Karten? Der Versuch einer Analyse.

Corona hat nicht nur zu einem Wandel der Inter­es­sen geführt, sondern war auch verant­wort­lich für den Nach­fra­ge­schwund nach Live-Events. Die Menschen haben sich offen­bar an ihr Sofa gewöhnt und sind nicht mehr so unter­neh­mungs­lus­tig. Bei vielen hat dieser Rückzug eine Art Sozi­al­pho­bie beför­dert. Es wurden andere Frei­zeit­ver­gnü­gen entdeckt, wie gemein­sa­mes Kochen, Gesell­schafts­spiele oder auch Streaming-Dienste.

In der Zeit nach Corona kamen andere Probleme hinzu, die das Konsum­ver­hal­ten beein­träch­tigt haben. Von der Infla­tion bis hin zur Ener­gie­krise: wegen der gestie­ge­nen Lebens­hal­tungs­kos­ten wird lieber gespart. Da bleibt dann nicht viel für die Kultur übrig. Anstatt eine Konzert‑, oder Thea­ter­karte zu kaufen, gönnt man sich eher einen Restau­rant- bzw. Barbesuch.

Open-Air-Veranstaltungen hatten und haben in und nach der Pande­mie-Zeit deut­lich mehr Zulauf als Indoor-Veranstaltungen. Auch jetzt noch ist die Furcht vor Anste­ckung, vor allem bei älteren Menschen, ein Faktor, obwohl die Säle hygie­nisch sicher sind.

Für die Kaba­rett­büh­nen und Theater ist der Publi­kums­schwund eine beson­dere Heraus­for­de­rung. Schon seit Mitte der 1990er-Jahre ist zu beob­ach­ten, dass aufgrund der Über­al­te­rung tradi­tio­nel­les, klas­si­sches Kultur­pu­bli­kum wegbricht und die unter 30-Jähri­gen immer schwie­ri­ger ins Kabarett/Theater zu locken sind. Das lang­fris­tige Problem wurde jetzt durch die Pande­mie noch einmal sehr verdeutlicht.

Nicht nur nach Krisen ist oft eine große Sehn­sucht nach Leich­tig­keit und Unter­hal­tung zu beob­ach­ten. Kabarett/Comedy ist heut­zu­tage popu­lä­rer und zugleich belang­lo­ser denn je. Die Spiel­orte werden immer größer, die Ansprü­che kleiner. Poin­ten­dichte ersetzt oft Esprit. Der bunte Abend, jetzt Mixed-Show genannt, hat Konjunk­tur, vor allem bei den Jüngeren.

Namhafte Künstler:innen und deren Manage­ments bevor­zu­gen immer größere Säle. Ab 300 Sitz­plät­zen aufwärts ist ein ausver­kauf­ter Auftritt erst richtig lukra­tiv. Voll­kom­men verständ­lich, wenn man so viel auf Achse sein muss, um seinen Lebens­un­ter­halt zu verdie­nen. Lieber einmal einen großen Saal als vier mal hinter­ein­an­der klei­nere Bühnen bespie­len. Doch wo bleibt das echte Kaba­ret­t­er­leb­nis, wie es einst Rodol­phe Salis 1881 aus der Taufe hob?

Zudem werden Eintritts­kar­ten meist erst kurz vor der Veranstaltung gekauft. Das Publi­kum ist durch die vergan­ge­nen Jahre verun­si­chert. Aber die Menta­li­tät des ’sich nicht fest­le­gen müssen’ ist auch bequem. Das bringt Veran­stal­tern wie Künstler:innen natür­lich keine Planungs­si­cher­heit. Und das ist für alle Bühnen existenzgefährdend.

Was muss passie­ren, damit sich die Säle wieder füllen?

Müssen die Menschen erst wieder das Bedürf­nis bekom­men, in einen Liveact gehen zu wollen, statt nur das Bewegt­bild im Fern­se­hen zu sehen? Um zu spüren, wie wichtig und schön es ist, Begeg­nun­gen zu haben und sich zu sozia­li­sie­ren? Wir vom Kabarett­archiv hoffen, dass es wieder in die Zeit zurück­geht, in der man eng beiein­an­der­ge­hockt, sich live in die Augen geschaut und gemein­sam gelacht hat und dabei dem Kabarettisten/der Kaba­ret­tis­tin auf der Bühne ganz nah war.

Und es hätte gera­dezu etwas unge­mein Befrei­en­des, wenn die “Geiz ist geil”-Mentalität ein für alle mal aus den Köpfen verschwin­den würde. Kunst leitet sich von Können ab. Und von Kennen. Und beides sollte wert­ge­schätzt werden. Wert­schät­zung bedeu­tet, dass auf der einen Seite ein gewis­ser Wert steht und auf der anderen Seite eine Person, die aktiv daran betei­ligt ist, diesen Wert zu würdi­gen. Auch finan­zi­ell. Denn auch die Kabarettist:innen müssen weiter exis­tie­ren können, um ihre Kunst über­haupt präsen­tie­ren zu können.

Trotz all dieser Probleme freuen sich die Veranstalter:innen, Bühnen und Künstler:innen auf jede neue Spiel­zeit — in Zeiten von Pande­mie, Krieg, Infla­tion und Klima­ka­ta­stro­phe wissen sie, dass sie es eigent­lich sind, die drin­gend für Geist und Seele gebraucht werden.

©Gedan­ken von Martina Keif­fen­heim, Archivleiterin