Kabarett­geschichte

Wenn Menschen kein Geschichts­be­wusst­sein haben, und die Gesell­schaft leidet darun­ter, haben Sie natür­lich auch kein Kunst­ge­schichts­be­wusst­sein. also auch kein Kleinkunstgeschichtsbewusstsein.

Werner Schney­der

Vom Cabaret zum Kabarett

Die das Kaba­rett ausma­chende Misch­form verschie­de­ner Bühnen­künste exis­tiert formal­be­griff­lich erst seit dem späten neun­zehn­ten Jahr­hun­dert. Diese Misch­form wird durch den schönen fran­zö­si­schen Begriff ‚Cabaret‘ symbo­li­siert. Er meint einer­seits die Schänke, die kleine Kneipe, trägt damit den Charak­ter des Intimen in sich. Ande­rer­seits ist die gefä­cherte Salat­schüs­sel gemeint, die Hors d’ Ouevre-Platte.

Foto DKA.

Reihum stehen die Fächer für die verschie­de­nen Bühnen­dis­zi­pli­nen, Musik, Theater, Rezi­ta­tion, Tanz, Sketch, auch Malerei. Nach einigen Vorläu­fern wie den ‚Caba­rets des Assas­sins‘, die Mori­ta­ten über Mörder sangen, war es Rodol­phe Salis, ursprüng­lich ein Maler, der sich eines Abends im Herbst 1881 in seiner Kneipe ‚Le Chat Noir‘ am Mont­martre auf eine Tonne stellte und seinem amüsier­freu­di­gen gutbe­tuch­ten Publi­kum Vorträge einzel­ner Künst­ler ansagte.

Die Geburts­stunde dessen, was die Welt als zeit­kri­ti­sches lite­ra­ri­sches Kaba­rett bis heute kennt! Urheber der so genann­ten Caba­rets Artis­ti­ques, war Salis als Présen­ta­teur der erste seiner Zunft. Quasi die alles verbin­dende Soße im mitt­le­ren Fach der Salatschüssel.

Le Chat Noir wurde schnell zu einer Stätte, in der die Artist:innen, und damit waren im Paris des 19. Jahr­hun­derts sämt­li­che Künstler:innen gemeint, ihre Nummern auspro­bier­ten und sich gegen­sei­tig vorführ­ten, bevor sie dem Publi­kum vorge­stellt wurden.

Das berühmte Mont­martre-Kaba­rett ‘Chat Noir’ (Schwarze Katze) am Boule­vard de Clichy Nr.68, um 1900. Foto DKA.

Noten­heft der ‘Le Chat Noir Ballade‘. Foto DKA.
Lied, Text und Musik von Aris­tide Bruant. Gewid­met Rodol­phe Salis.

“Ich suche nach Glück 
Rund um den Chat Noir 
Im Mond­licht,
In Mont­martre, bei Nacht …”

Salis Confe­rence war berüchtigt!

Gele­gent­lich belei­di­gend, aggres­siv, ebenso wie die darge­bo­te­nen Chan­sons. Genau das zog das intel­lek­tu­elle Pariser Publi­kum jedoch an. Bald erstieg die lite­ra­ri­sche Elite die ‚Butte sacré‘. Ihr folgten Poli­ti­ker und Aris­to­kra­ten. Zum Beispiel Victor Hugo und Émile Zola; der italie­ni­sche Frei­heits­kämp­fer Giuseppe Gari­baldi kam ebenso wie Prinz Jérôme Bona­parte, der Neffe des großen und Vetter des kleinen Napoleon.

Viele Sänger, Kompo­nis­ten und Spre­cher mit großem Talent traten auf, die später größ­ten­teils berühmt wurden, zum Beispiel Aris­tide Bruant und Yvette Guil­bert, erste große Diseuse des fran­zö­si­schen Caba­rets. Ihr männ­li­ches Pendant Aris­tide setzte mit sozi­al­kri­ti­schen Chan­sons gegen die Doppel­mo­ral des Besitz­bür­ger­tums in seinem Lokal ‚Mirli­ton’ seine Karriere fort, durch ein Plakat von Henri de Toulouse-Lautrec ist er bis heute weltbekannt.

Zwei Chat Noir-Plakate von 1895 fanden auch ihren Weg in unsere Plakat­schränke, zu all den anderen, fast zwan­zig­tau­send Exem­pla­ren aus allen Epochen des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts. Da begann bei einem Teil der Bevöl­ke­rung mit großer Lust an Kunst und Kultur. Kaba­rett war dabei, zumin­dest für die Bohème, das auser­wählte Medium.

Der Schrift­stel­ler Otto Julius Bier­baum propa­gierte es so: „Renais­sance aller Künste und des Lebens vom Tingel­tan­gel her! Wir werden eine neue Kultur herbeit­an­zen! Wir werden den Über­men­schen auf dem Brettl gebären! Wir werden diese alberne Welt umschmei­ßen!“ Das war ernst gemeint! Leider haben dann ganz andere die Welt umge­wor­fen. Aber immer­hin, es gab etwas Neues um 1900!

Foto DKA.

„Sich fügen heißt lügen!“

Es war die Zeit des Aufbruchs, einer Aufbruchs­stim­mung: Der Mensch, als in die Zeit gewor­fe­nes Wesen. Die Welt als Cabaret! Wie beim Jugend­stil entfachte die neue Kunst­form eine regel­rechte Bewe­gung, war ‚in‘, war ‚en vogue‘, wurde zur Welle, die bald in die Reichs­haupt­stadt hinüber­schwappte. Dort reüs­sierte der konser­va­tive Baron Ernst von Wolz­o­gen mit seinem ‚Über­brettl‘ am 18. Januar 1901, dem drei­ßigs­ten Jahres­tag der Reichs­grün­dung. Die ‚Haus-Ordnung‘ des Betriebs ist archiviert.

In München betra­ten bald danach die ‚Elf Scharf­rich­ter‘ die Szene, das erste echte poli­ti­sche Kaba­rett in Deutsch­land. Frank Wede­kind wirkte mit bei den Elfen, ebenso wir Marc Henry, der von Paris herüber kam. So speist die nähere Ahnen­reihe sich mütter­li­cher­seits aus Frank­reich, väter­li­cher­seits aus dem Deut­schen Reich. Euro­pä­isch verfloch­ten wie der alte Adel… Dann ging es Schlag auf Schlag! Schon 1901 entstan­den allein an der Spree vierzig Etablis­se­ments mit kaba­ret­tis­tisch-lite­ra­ri­schem Spielbetrieb.

Die Bezeich­nung „Über­brettl“ war eine ironi­sche Anspie­lung auf Fried­rich Nietz­sches Wort vom
Über­men­schen. Damit sollte gehört werden, dass es sich bei dieser Bühne um weit mehr als um ein
übli­ches „Brettl“, wie man damals kleine Tingel­tan­gel-Klubs nannte, handelte. Der lite­ra­risch-künst­le­ri­sche
Anspruch war der Unter­schied. Foto: Georg Bartels.

Zu den wich­tigs­ten Mitar­bei­tern des Bunten Thea­ters gehör­ten die Kompo­nis­ten Victor Hollaen­der (Musik­di­rek­tor und Diri­gent des Thea­ters, sowie Vater von Fried­rich Hollaen­der), Oscar Straus und der junge Kompo­nist Arnold Schön­berg und der Schrift­stel­ler und Drama­ti­ker Arthur Schnitz­ler. Foto DKA.

Fritz Grün­baum (* 7. April 1880 in Brünn, † 14. Januar 1941 im KZ Dachau)

Seine Kaba­rett­kar­riere begann 1906 in der „Hölle“ (im Souter­rain des Thea­ters an der Wien), wo er zum großen Confé­ren­cier seiner Zeit wurde. Er ist auch in Berlin ein immer wieder enthu­si­as­tisch begrüß­ter Gast – insbe­son­dere auf Rudolf Nelsons Bühnen. 1914, als die Kriegs­be­geis­te­rung noch allge­mein ist, hat Grün­baum seinen ersten Auftritt im Wiener „Simpl“, dem er bis zuletzt treu blieb und wo er gemein­sam mit Karl Farkas 1922 die aus Ungarn kommende Doppel­con­fé­rence begann und zur Voll­endung führt. Foto Wienbibliothek. 

Kathi Kobus (* 7. Oktober 1854 in Niklas­reuth; † 7. August 1929 in München) 
1903 wird aus einem Café der berühmte „Simpli­cis­si­mus“ in der Türken­straße, wo sich die Künst­ler bei der Alt-Münch­ner Bohème-Wirtin treffen. Foto­ar­chiv Museum Wurzen.

Kaba­rett international

In Wien eröff­ne­ten ‚Zum lieben Augus­tin‘, das ‚Nacht­licht‘ und die ‚Fleder­maus‘. Frida Strind­berg, deren erstes Kind von August Strind­berg stammte, das zweite von Frank Wede­kind, grün­dete das erste Kaba­rett in London. Zuvor gab es in Barce­lona schon ‚El quatre Gats’. Krakau, Warschau, Buda­pest, St. Peters­burg, bis nach Moskau, entstan­den Kaba­retts nach den Vorbil­dern aus Frank­reich und dem Deut­schen Reich. Wo das kauf­män­ni­sche Verständ­nis und ein glück­li­ches Händ­chen für die Darbie­tun­gen fehlten, da ging aller­dings ein eben erst gegrün­de­ter Laden auch schnell wieder kaputt. Aber der Szene­schwung hielt. Zunächst.

Kaba­rett – Die Entwick­lung in Deutschland

Charak­te­ris­tisch für die junge Kunst­form wird, wie zuvor in Paris, das Knei­pen­brettl, die Bühne der so genann­ten ‚Vagan­ten‘. Mit ihm verwirk­licht sich der Traum der Künst­ler-Bohème: Die Präsen­ta­tion der eigenen Werke, frei und abseits des etablier­ten Kunst­be­triebs. Man ist faszi­niert von der Unmit­tel­bar­keit dieser Kunst­form auf der Bühne: Theater spielte dem Publi­kum etwas vor, im Kaba­rett spielt man das Publi­kum direkt an! Gagen für die Mitwir­ken­den waren dabei eher selten. Die meisten wurden in Natu­ra­lien bezahlt. Oder es wurde gesam­melt. Apropos Vagan­ten­dich­tung: Deren Vorbil­der und Wurzeln reichen tief ins Mittel­al­ter. Mora­lisch-sati­ri­sche Dich­tun­gen, Liebes- und Trink­lie­der der so genann­ten „Erzpoe­ten“. In Hanns Dieters ‚Arche Nova‘ wurde gleich im ersten Programm­heft die Rolle des ‚Archip­oeta‘ mit einem seiner Lieder aus dem zwölf­ten Jahr­hun­dert gewür­digt. Die bedeu­tendste Sammlung, rund drei­hun­dert Lieder‚ 1803 im Kloster Bene­dikt­beu­ren entdeckt und als „die Lieder aus Beuren“ bezeich­net, erlang­ten Welt­ruhm durch die neue Verto­nung: Carmina Burana. Vagan­ten­dich­tung als extra­va­gan­tes Orato­rium. Zeitlos gewor­den durch Carl Orffs gran­diose Musik.

Schall und Rauch?

Eine zeit­ge­bun­dene Erschei­nung dagegen ist die Künst­ler­bo­hème selbst. So leben die neuen Klein­kunst­büh­nen vom und für den Augen­blick. Lang­fris­tig erfolg­reich ist allein der Münche­ner Simpli­cis­si­mus. Von einer sehr passa­blen Confe­ren­cière gelei­tet, die vor allem eine geniale Geschäfts­frau war: Kathi Kobus gelingt die Symbiose von Kunst und Kommerz. Fünf­und­sech­zig Jahre lang, von 1903 bis 1968 besteht der Simpl – ein Zeit­raum, den bis heute keine andere deut­sche Kaba­rett­bühne erreicht hat. Und wer dort alles vor dem ersten Welt­krieg verkehrte?! Gott und die Welt und Münchens Schi­cke­ria! Touris­ten aus Übersee, der Prinz von Wales. Zar Ferdi­nand von Bulga­rien. Der belgi­sche König! Indus­trie­ka­pi­täne, Geld­aris­to­kra­ten. Wilhelm Voigt, der Schu­ma­cher, der als ‚Haupt­mann von Köpe­nick‘ Karriere gemacht, lässt sich im Simpl für Geld sehen und verkauft seine Auto­gramme. Und ein gewis­ser Hans Bötti­cher. Erst Dauer­gast, dann Haus­au­tor, wurde er berühmt als: Joachim Ringelnatz.

Eine kleine Anek­dote zwischendrin

Die reso­lute Kathi Kobus hatte die rich­tige Empfin­dung für Talente, aber auch untrüg­li­chen Geschäfts­sinn. Sie verfol­gen ihren Laden nicht, sie re gierte ihn und verschenkte niemals etwas ohne eine Gegen­leis­tung zu fordern. So zahlt sie ihrem Haus­dich­ter zwei Schop­pen Magda­le­ner und eine Mark in bar, wenn er am Abend zweimal vier bis fünf Gedichte vorträgt.

Aller­dings muss zwischen Ringel­natz und Kathi Kobus wohl so etwas wie eine Hass­liebe bestan­den haben, denn es gab immer wieder Reibe­reien, weil Ringel­natz Gedichte vortrug, die ihr nicht passt. Raus­schmei­ßen wollte sie ihn aber auch nicht, weil er bei ihren Gästen so gut ankam und er sich beispiel­weise mit dem “Simpli­cis­si­mus­lied” bei ihr einzu­schmei­cheln wusste. Und so sah sie zwar noch gnädig über seine „Turn­ge­dichte“ hinweg, duldete auch noch das „Geseire einer After­mie­te­rin“, doch das „unap­pe­tit­li­che“ Gedicht „Seemann­streue“ wurde von ihr unter Andro­hung einiger Ohrfei­gen strikt verboten.

Das Publi­kum wusste das natür­lich und verlangte jedes Mal stür­misch danach. Ringel­natz stand dann grin­send, mit einem Schop­pen­glas bewaff­net, ans Klavier gelehnt, auf der Bühne und lieferte ab. Vor Kathis Ohrfei­gen soll er sich mit einem Sprung auf das Klavier geret­tet haben.

Nach dem 1. Weltkrieg

Einer der ersten Kaba­rett­stars in Deutsch­land war Otto Reutter, dessen Couplets inzwi­schen 100 Jahre über­dau­ert haben. Die strenge Thea­ter­zen­sur im Kaiser­reich sorgte dafür, dass im Kaba­rett des begin­nen­den 20. Jahr­hun­derts jegli­che Form der öffent­li­chen Kritik verbo­ten war. Mit dem Ende des Ersten Welt­krie­ges wurde die Zensur auf Theater und Kaba­rett­pro­gramme aufge­ho­ben, und die Kaba­ret­tis­ten konnten ab 1919 auf die aktu­el­len poli­ti­schen Entwick­lun­gen und die soziale Situa­tion der Menschen einge­hen. In dieser Zeit blühte das deut­sche Kaba­rett erst­mals auf und brachte neben Otto Reutter, der bis 1931 sein Alters­werk schuf, so unter­schied­li­che Künst­ler wie Claire Waldoff oder Werner Finck hervor.

Das ‚Goldene Buch der Kata­kombe‘, befin­det sich im Besitz des Deut­schen Kabarett­archivs. Der aus Görlitz stam­mende Finck war in der Weima­rer Repu­blik nach Berlin gekom­men und grün­dete 1929 mit Tibor Kasics die Kaba­rett­bühne ‘Die Kata­kombe’, das relativ unpo­li­tisch begann, aber immer stärker gegen die braune Gefahr Stel­lung bezog. In diesem Gäste­buch der Kata­kombe ist ein launi­ger Spruch von Joachim Ringel­natz ebenso enthal­ten wie eine Origi­nal­zeich­nung von Walter Trier, der die Bücher Erich Käst­ners illus­trierte. Signa­tu­ren und Sprüche von Hans Albers bis Carl Zuck­mayer, von Klaus und Hein­rich Mann, Walter Hasen­cle­ver und George Grosz, Max Rein­hardt, Erich Mühsam, Gustav Gründ­gens, von Luigi Piran­dello und Erwin Picator bis Alfred Döblin und Richard Huel­sen­beck. Letz­te­rer fand die Dada-Formel des Kaba­retts: „Dada ist das Cabaret der Welt, so gut wie die Welt, das Cabaret, Dada ist.“ Im ‚Cabaret Voltaire‘ in Zürich erfand Hugo Ball jene lite­ra­ri­sche Form als Provo­ka­tion gegen­über der Gleich­gül­tig­keit der bürger­li­chen Welt ange­sichts der Grauen des großen Krieges.

Das Ensem­ble der Kata­kombe bei seiner Schluss­num­mer, 1929. Foto Schen­kung Witwe Tibor Kasicz (1929–32; Haus­kom­po­nist und 
musi­ka­li­scher Leiter
des neu gegrün­de­ten Kaba­retts Die Kata­kombe), Deut­scher Photodienst/Umbo.

Das ‚Goldene Buch der Kata­kombe‘ im Besitz des Deut­schen Kabarett­archivs aus dem Nach­lass von Werner Finck. Foto DKA.

Kurt Tuchol­sky
Kurt Tuchol­sky Archiv/Mary Tucholsky

„Was darf Satire? Alles!“

Kurt Tuchol­sky und Walter Mehring waren nach 1918 die heraus­ra­gen­den Kaba­ret­t­au­to­ren: Chro­nis­ten einer allein gelas­se­nen Repu­blik, Wort­füh­rer kämp­fe­ri­scher Satire, die daneben aber auch Poeti­sches oder hinrei­ßend Komi­sches zur Unter­hal­tung ihres Publi­kums schrie­ben. Für Bert Brecht diente Kaba­rett als Anre­gung für seine Theorie vom epischen Theater. Mit den Couplets eines Otto Reutter, den Chan­sons der Fried­rich Hollaen­der und Rudolf Nelson, gesun­gen von Stars wie Claire Waldoff und Marlene Diet­rich, trieb Kaba­rett sich vor allem in Berlin in großen Revuen und auf Varie­té­büh­nen herum. In München verkör­pert es mit Karl Valen­tin volks­tüm­lich-absurd den entwur­zel­ten Komiker von der trau­ri­gen Gestalt.

Walter Mehring
Foto­graf Fritz Eschen/aus Nach­lass Heinz Greul
 

Werner Finck 1957 in der Rolle des König Peter (Leonce und Lena von Georg Büchner), Foto Theater am Kurfürs­ten­damm, Berlin.

Poli­tisch-lite­ra­ri­sches Kaba­rett in Zeiten natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Gewaltherrschaft

1932, ein Jahr vor Hitlers Macht­über­nahme, steht Werner Finck verle­gen lächelnd auf der Bühne und blickt nach vorn. Er stellt sich vor, was passie­ren wird, wenn die Nazis ans Ruder kommen und prophe­zeit: „In den ersten Wochen des Dritten Reichs werden Paraden abge­hal­ten. Sollten diese Paraden durch Regen, Hagel oder Schnee verhin­dert werden, werden alle Juden in der Umge­bung erschos­sen.“ — Diese Pointe, das sollte sich bald zeigen, war keine. Als die Nazis an der Macht sind, versucht Finck, den Witz als Wider­stand zu leben. Hunderte von Kaba­ret­tis­ten und Sati­ri­kern verbrach­ten das tausend­jäh­rige Reich im KZ. Stell­ver­tre­tend sei erin­nert an Künstler:innen, die auf dem Walk-of-Fame des Kaba­retts mit einem Satire-Stern ausge­zeich­net wurden: Erich Mühsam, Fritz Grün­baum und Kurt Gerron. Ermor­det in Orani­en­burg, Dachau und Ausch­witz. Der 10. Mai 1933 war der Tag, an dem in Berlin und später andern­orts die Bücher brann­ten; in Mainz am 23. Juni. Was poli­tisch-lite­ra­ri­sches Kaba­rett in den Jahren natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Gewalt­herr­schaft trotz allem sein konnte, beschrieb Sebas­tian Haffner in seinen posthum erschie­nen Erin­ne­run­gen: „Geschichte eines Deutschen“.

Nach 1945

Nach dem 8. Mai 1945 beginnt eine wahre Renais­sance des Kaba­retts. Die Besat­zungs­mächte sorgten dafür, den Deut­schen die Gräuel der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft näher zu bringen. Zur „Umer­zie­hung“ gehörte auch das kultu­relle Leben. So halfen die Kultur­of­fi­ziere der Mili­tär­re­gie­run­gen dabei, Theater und Kaba­rett in Gang, neue und bisher verbo­tene Stücke auf die Bühne zu bringen. In ‚Trizo­ne­sien‘ singt man trotzig-melan­cho­lisch: Hurra, wir leben noch. Im Düssel­dor­fer ‚Kom(m)ödchen‘ setzt Kaba­rett neue Maßstäbe im poli­tisch-lite­ra­ri­schen Anspruch, Erich Kästner beginnt in München wieder zu schrei­ben und mit Günter Neumanns ‚Insu­la­nern‘ funkt Kaba­rett mittels RIAS-Berlin in den Kalten Krieg hinein. Es trom­melt mit Wolf­gang Neuss die Folgen der Verdrän­gung und der Wirt­schafts­wun­der­jahre ins bundes­deut­sche Bewusst­sein und feiert mit der ‚Münch­ner Lach- und Schieß­ge­sell­schaft‘ und den Berli­ner ‚Stachel­schwei­nen‘ bald telegen Silves­ter. So wird es einem breiten bürger­li­chen Publi­kum zum Begriff. Damals hat Fern­se­hen poli­ti­sches Kaba­rett groß gemacht. In der DDR, rich­tete Kaba­rett sich über vier Jahr­zehnte mehr oder weniger mühelos in den Grenzen der real exis­tie­ren­den Zensur ein. Im Zweifel von der besse­ren Sache des Sozia­lis­mus über­zeugt. Ein Kapitel für sich. Mit Franz-Josef Degen­hardt singt es im Westen in den Sech­zi­gern gegen den Vormarsch der Neona­zis an, agitiert mit der APO (außer­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­tion) in die aufge­wühl­ten sieb­zi­ger Jahre hinein und erklärt am Ende durch Hanns Dieter Hüschs ‚Hagen­buch‘ alle und alles für krank und verrückt.

Wolf­gang Neuß. Ein Porträt von Sigurd Wend­land betei­ligt an einer Kunst­post­karte
für die Aktion „Macht Wolf­gang Neuss zum
Volks­ei­gen­tum (VEN)“, 1983

Die Zeit­schrift der Insu­la­ner vom 01. Juli 1949. Foto DKA.

Rias Berlin_Kabarett Die Insulaner

Das Kaba­rett „Die Insu­la­ner“ tritt beim RIAS Berlin auf. Das von Günter Neumann gegrün­dete Polit­ka­ba­rett war von 1948 bis 1964 fester Bestand­teil des Programms. Foto: RIAS-Rothe, 1959

Foto DKA.

Kaba­rett | Comedy | Medienwelt

In den 1970er Jahren entwi­ckel­ten sich weitere neue Formen des Kaba­retts wie Dieter Hilde­brandts kaba­ret­tis­ti­sche TV-Sendung „Notizen aus der Provinz“. Das Szene­ka­ba­rett mit den ‚Drei Torna­dos‘ tobt durch die junge Sponti- und Alter­na­tiv­szene, parodiert mit Thomas Freitag Kanzler Kohl ohne Ende, Erfin­der der Real­sa­tire ‚in diesem unserem Lande’, seziert mit Gerhard Polt mentale Wurzeln, hält mit Richard Rogler die geistig- mora­lisch gewen­dete Frei­heit im Zynis­mus aus und entdeckt mit dem aufkom­men­den Privat­fern­se­hen zuneh­mend seinen Markt­wert. Noch in den ausge­hen­den 1980er Jahren war poli­ti­sches Kaba­rett in der Bundes­re­pu­blik ange­se­he­ner Teil der Gesell­schafts­kri­tik und gewann nach der Verei­ni­gung von Bundes­re­pu­blik und DDR noch­mals kurz an Bedeu­tung. Neue Künst­ler wie der Frank­fur­ter Matthias Beltz („Vorläu­fi­ges Frank­fur­ter Front­thea­ter“) oder Mathias Rich­ling setzten Zeichen.

In den 1990er Jahren wurde das Kaba­rett aber gleich von mehre­ren Seiten bedrängt. Der Comedy-Boom, das Privat­fern­se­hen und die damit verbun­dene Prio­ri­tä­ten­set­zung der öffent­lich-recht­li­chen Anstal­ten sowie ein gerin­ger werden­des Inter­esse des Publi­kums sorgten für einen Rück­gang von Kaba­rett­pro­gram­men. Es schwankt seitdem zwischen Kaba­rett und Comedy, zwischen poli­tisch begrün­de­tem Enga­ge­ment und hohem Erwerbs­sinn, zwischen Deutsch­lands Klein­kunst­büh­nen und großen Arenen. „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeu­tung“, mit denen man einst die Verhält­nisse umschmei­ßen wollte, wichen mehr als hundert Jahren später zuneh­mend den Geset­zen des Unterhaltungsbetriebs.

Kaba­rett verän­dert sich

In der ARD verblieb einzig die Sendung „Schei­ben­wi­scher“ (mit Bruno Jonas und Mathias Rich­ling) im Programm bzw. die Nach­folge-Sendung unter dem Titel „Satire Gipfel“ mit Mathias Rich­ling, bzw. seit 2011 mit Dieter Nuhr unter dem Namen „nuhr im Ersten“. Das ZDF zeigte von Januar 2007 bis Oktober 2013 die Sendung „Neues aus der Anstalt“ mit Urban Priol, Georg Schramm (Folgen 1–36) und Frank-Markus Barwas­ser (Folgen 37–62). Seit dem 4. Februar 2014 präsen­tiert das ZDF die Nach­folge-Sendung „Die Anstalt“ mit Max Uthoff und Claus von Wagner, wort­ge­wandt, unkon­ven­tio­nell und mit viel sati­ri­scher Schärfe. Seit Septem­ber 2015 läuft im ZDF zudem die Kaba­rett-Late-Night-Show „Mann, Sieber!“ mit Chris­toph Sieber und Tobias Mann, die Septem­ber 2020 einge­stellt wurde. Die dritten Programme senden regel­mä­ßig Kaba­rett („Quer“, bis 2012 „Ottis Schlacht­hof“ und seit März 2013 schlacht­hof im BR, „Mitter­nachts­spit­zen“ im WDR, „Extra 3“ im NDR oder „Rich­ling – Zwerch trifft Fell“ sowie „Spät­schicht – Die Comedy Bühne“ im SWR). Im 3sat lief von 2004 bis 2007 die Sendung „alles muss raus“ mit Urban Priol.

Kaba­rett verän­dert sich. Para­dig­men­wech­sel allent­hal­ben. Aber das war immer so, im Laufe der Zeiten. Alles hat seinen Ausgangs­punkt, seinen Über­gang, seinen Verlauf. Und irgend­wann seine Kultur­ge­schichte – die wir im Deut­schen Kabarett­archiv doku­men­tie­ren dürfen. Und es ist noch lange nicht die Endzeit gekom­men für poli­ti­sche Tiefen­schärfe, Sehn­sucht und Enga­ge­ment, Poesie und Expe­ri­ment auf der Kaba­rett­bühne, wie es von den ewig Gest­ri­gen gerne prophe­zeit wird. Das mit Kaba­rett und Comedy Geld verdient wird – Geld verdient werden muss – versteht sich von selbst. Das Kaba­rett und Comedy auch durch die sozia­len Medien schnel­ler, einfa­cher, viel­leicht auch ober­fläch­li­cher verfüg­bar und konsu­mier­bar ist, ist Fluch und Segen zugleich. Aber das lite­ra­ri­sche, philo­so­phi­sche und poli­ti­sche Element, die Frei­heit der darstel­len­den Kunst für Haltung und Stand­punkt, für Aufklä­rung und Erre­gung, für Phan­ta­sie und Wirk­lich­keit wird dadurch nicht zur Tabu­zone oder stirbt gar aus. Kaba­rett verän­dert sich einfach nur. Zeigt sich viel­schich­tig und variabel.

Urban Priol anläss­lich des 60ten Geburts­ta­ges des Deut­schen Kabarett­archivs (2021). Foto DKA.

Sebas­tian Haffner

Sebas­tian Haffner

„Geschichte eines Deutschen“

Es spricht frei­lich auch ein wenig gegen uns, dass wir mit dem Erleb­nis der Todes­angst und der letzten Ausge­lie­fert­heit nichts Besse­res anzu­fan­gen wussten als es, so gut wir konnten, zu igno­rie­ren und uns in unserm Vergnü­gen nicht stören zu lassen. Ich glaube, ein junges Paar von vor hundert Jahren hätte mehr daraus zu machen gewusst – sei es selbst nur eine große Liebes­nacht, gewürzt von Gefahr und Verlorenheit.

Werner Finck auf der Bühne inmit­ten seines Ensem­bles 1931, Septem­ber­pro­gramm. Sie zeigen eine vergnüg­li­che Schluss­num­mer, entwe­der die “Ritter­fest­spiele anläss­lich des Goethe-Jahres” oder die “Erste große Wochen­schau der Kata­kombe”. Foto Schen­kung Witwe Tibor Kasicz, Deut­scher Photodienst/Umbo.

Wir kamen nicht darauf,

Wir kamen nicht darauf, etwas Beson­de­res daraus zu machen, und fuhren eben ins Kaba­rett, da uns keiner daran hinderte: erstens weil wir es sowieso getan hätten, zwei­tens, um so wenig wie möglich an das Unan­ge­nehme zu denken. Das mag sehr kalt­blü­tig und uner­schro­cken ausse­hen, ist aber wahr­schein­lich doch ein Zeichen einer gewis­sen Gefühls­schwä­che und zeigt, dass wir, wenn auch nur im Leiden, nicht auf der Höhe der Situa­tion waren. Es ist, wenn man mir diese Verall­ge­mei­ne­rung hier schon gestat­ten will, über­haupt einer der unheim­lichs­ten Züge des neuen deut­schen Gesche­hens, dass zu seinen Taten die Täter, zu seinen Leiden die Märty­rer fehlen, dass alles in einer Art von halber Narkose geschieht, mit einer dünnen, kümmer­li­chen Gefühls­sub­stanz hinter dem objek­tiv Unge­heu­er­li­chen: dass Morde began­gen werden aus der Stim­mung eines Dumme-Jungen-Streichs, dass Selbst­er­nied­ri­gung und mora­li­scher Tod hinge­nom­men werden wie ein kleiner stören­der Zwischen­fall, und selbst der physi­sche Marter­tod nur unge­fähr bedeu­tet „Pech gehabt“.

Werner Finck, geb. 02. Mai 1902 in Görlitz; gest. 31. Juli 1978 in München. Foto: Gerhard Grönefeld

Die Kata­kombe

Wir wurden indes­sen für unsere Indo­lenz an diesem Tage über Gebühr belohnt, denn der Zufall führte uns gerade in die Kata­kombe, und dies war das zweite bemer­kens­werte Erleb­nis dieses Abends. Wir kamen an den einzi­gen öffent­li­chen Ort in Deutsch­land, wo eine Art Wider­stand geleis­tet wurde – mutig, witzig und elegant geleis­tet wurde. Vormit­tags hatte ich erlebt, wie das Preu­ßi­sche Kammer­ge­richt mit seiner viel­hun­dert­jäh­ri­gen Tradi­tion ruhmlos vor den Nazis zusam­men­brach. Abends erlebte ich, wie eine Hand­voll kleiner Berli­ner Kaba­rett­schau­spie­ler ohne alle Tradi­tion glor­reich und mit Grazie die Ehre rettete. Das Kammer­ge­richt war gefal­len. Die Kata­kombe stand.

Sebas­tian Haffner um 1970.
(* 27. Dezem­ber 1907 in Berlin; † 2. Januar 1999 ebenda, eigent­lich Raimund Werner Martin Pretzel) war ein deutsch-briti­scher Jour­na­list, Publi­zist und Schrift­stel­ler. Foto Kata­kombe, Nach­lass Heinz Greul.

Dieser Mann

Der Mann, der hier sein Fähn­lein von Schau­spie­lern zum Siege führte – denn jedes Fest­ste­hen und Haltung bewah­ren ange­sichts der mord­dro­hen­den Über­macht ist eine Art Sieg – war Werner Finck, und dieser kleine Kaba­rett-Confé­ren­cier hat ohne Zweifel seinen Platz in der Geschichte des Dritten Reichs – einen der wenigen Ehren­plätze, die darin zu verge­ben sind. Er sah nicht aus wie ein Held, und wenn er schließ­lich doch beinah einer wurde, dann wurde er es malgré lui. Kein revo­lu­tio­nä­rer Schau­spie­ler, kein beißen­der Spötter, kein David mit der Schleu­der. Sein inners­tes Wesen war Harm­lo­sig­keit und Liebens­wür­dig­keit. Sein Witz war sanft, tänze­risch und schwe­bend; sein Haupt­mit­tel der Doppel­sinn und das Wort­spiel, in dem er allmäh­lich ein Virtuose wurde. Er hatte etwas erfun­den, was man die „versteckte Pointe“ nannte – und frei­lich tat er je länger je mehr gut daran, seine Pointen zu verste­cken. Aber seine Gesin­nung versteckte er nicht. Er blieb ein Hort der Harm­lo­sig­keit und Liebens­wür­dig­keit in einem Lande, wo gerade diese Eigen­schaf­ten auf der Ausrot­tungs­liste standen. Und in dieser Harm­lo­sig­keit und Liebens­wür­dig­keit saß als „verste­cke Pointe“ ein wirk­li­cher, unbeug­sa­mer Mut. Er wagte es, über die Wirk­lich­keit der Nazis zu spre­chen – mitten in Deutsch­land. In seinen Confé­ren­cen kamen die Konzen­tra­ti­ons­la­ger vor, die Haus­su­chun­gen, die allge­meine Angst, die allge­meine Lüge; sein Spott darüber hatte etwas unsäg­lich Leises, Wehmü­ti­ges und Betrüb­tes; und eine unge­wöhn­li­che Trostkraft.

31. März

Dieser 31. März 1933 war viel­leicht sein größter Abend. Das Haus saß voller Leute, die in den nächs­ten Tag wie in einen offenen Abgrund starr­ten. Finck machte sie lachen, wie ich nie ein Publi­kum lachen gehört habe. Es war ein pathe­ti­sches Lachen, das Lachen eines neuge­bo­re­nen Trotzes, der Betäu­bung und Verzweif­lung hinter sich ließ, und die Gefahr half dieses Lachen nähren – war es nicht fast ein Wunder, dass die SA nicht schon längst hier war, um das ganze Haus zu verhaf­ten? Wahr­schein­lich hätten wir an diesem Abend noch auf dem Grünen Wagen weiter­gel­acht. Wir waren auf eine unwahr­schein­li­che Weise über Gefahr und Angst hinweggehoben.