Kabarettgeschichte
Deutschland
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Vom Cabaret zum Kabarett
Die das Kabarett ausmachende Mischform verschiedener Bühnenkünste existiert formalbegrifflich erst seit dem späten neunzehnten Jahrhundert. Diese Mischform wird durch den schönen französischen Begriff ‚Cabaret‘ symbolisiert. Er meint einerseits die Schänke, die kleine Kneipe, trägt damit den Charakter des Intimen in sich. Andererseits ist die gefächerte Salatschüssel gemeint, die Hors d’Ouevre-Platte.
Reihum stehen die Fächer für die verschiedenen Bühnendisziplinen: Musik, Theater, Rezitation, Tanz, Sketch und auch Malerei. Nach einigen Vorläufern wie den ‚Cabarets des Assassins‘, die Moritaten über Mörder sangen, war es Rodolphe Salis, ursprünglich ein Maler, der sich eines Abends im Herbst 1881 in seiner Kneipe ‚Le Chat Noir‘ am Montmartre auf eine Tonne stellte und seinem amüsierfreudigen, gutbetuchten Publikum Vorträge einzelner Künstler ansagte.
Die Geburtsstunde dessen, was die Welt als zeitkritisches literarisches Kabarett bis heute kennt! Urheber der so genannten Cabarets Artistiques war Salis, der als Présentateur der erste seiner Zunft wurde. Quasi die alles verbindende Soße im mittleren Fach der Salatschüssel.
Le Chat Noir wurde schnell zu einer Stätte, in der die Artist, und damit waren im Paris des 19. Jahrhunderts sämtliche Künstler gemeint, ihre Nummern ausprobierten und sich gegenseitig vorführten, bevor sie dem Publikum vorgestellt wurden. Diese Einrichtung diente als kreativer Schmelztiegel, in dem verschiedene künstlerische Disziplinen zusammenflossen und sich gegenseitig inspirierten.
Gelegentlich beleidigend, aggressiv, ebenso wie die dargebotenen Chansons. Genau das zog das intellektuelle Pariser Publikum jedoch an. Bald erstieg die literarische Elite die ‚Butte sacré‘. Ihr folgten Politiker und Aristokraten. Zum Beispiel Victor Hugo und Émile Zola; der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi kam ebenso wie Prinz Jérôme Bonaparte, der Neffe des großen und Vetter des kleinen Napoleon.
Viele Sänger, Komponisten und Sprecher mit großem Talent traten auf, die später größtenteils berühmt wurden, zum Beispiel Aristide Bruant und Yvette Guilbert, erste große Diseuse des französischen Cabarets. Ihr männliches Pendant Aristide setzte mit sozialkritischen Chansons gegen die Doppelmoral des Besitzbürgertums in seinem Lokal ‚Mirliton’ seine Karriere fort, durch ein Plakat von Henri de Toulouse-Lautrec ist er bis heute weltbekannt.
Zwei Chat Noir-Plakate von 1895 fanden auch ihren Weg in unsere Plakatschränke, zu all den anderen, fast zwanzigtausend Exemplaren aus allen Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts. Da begann bei einem Teil der Bevölkerung mit großer Lust an Kunst und Kultur. Kabarett war dabei, zumindest für die Bohème, das auserwählte Medium.
Der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum propagierte es so: „Renaissance aller Künste und des Lebens vom Tingeltangel her! Wir werden eine neue Kultur herbeitanzen! Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären! Wir werden diese alberne Welt umschmeißen!“ Das war ernst gemeint! Leider haben dann ganz andere die Welt umgeworfen. Aber immerhin, es gab etwas Neues um 1900!
Die resolute Kathi Kobus hatte die richtige Empfindung für Talente, aber auch untrüglichen Geschäftssinn. Sie verfolgte ihren Laden nicht, sie regierte ihn und verschenkte niemals etwas ohne eine Gegenleistung zu fordern. So zahlte sie ihrem Hausdichter zwei Schoppen Magdalener und eine Mark in bar, wenn er am Abend zweimal vier bis fünf Gedichte vortrug.
Allerdings muss zwischen Ringelnatz und Kathi Kobus wohl so etwas wie eine Hassliebe bestanden haben, denn es gab immer wieder Reibereien, weil Ringelnatz Gedichte vortrug, die ihr nicht passten. Rausschmeißen wollte sie ihn aber auch nicht, weil er bei ihren Gästen so gut ankam und er sich beispielweise mit dem “Simplicissimuslied” bei ihr einzuschmeicheln wusste. Und so sah sie zwar noch gnädig über seine „Turngedichte“ hinweg, duldete auch noch das „Geseire einer Aftermieterin“, doch das „unappetitliche“ Gedicht „Seemannstreue“ wurde von ihr unter Androhung einiger Ohrfeigen strikt verboten.
Das Publikum wusste das natürlich und verlangte jedes Mal stürmisch danach. Ringelnatz stand dann grinsend, mit einem Schoppenglas bewaffnet, ans Klavier gelehnt, auf der Bühne und lieferte ab. Vor Kathis Ohrfeigen soll er sich mit einem Sprung auf das Klavier gerettet haben.
international
In Wien eröffneten ‚Zum lieben Augustin‘, das ‚Nachtlicht‘ und die ‚Fledermaus‘. Frida Strindberg, deren erstes Kind von August Strindberg stammte, das zweite von Frank Wedekind, gründete das erste Kabarett in London. Zuvor gab es in Barcelona schon ‚El quatre Gats’. Krakau, Warschau, Budapest, St. Petersburg, bis nach Moskau, entstanden Kabaretts nach den Vorbildern aus Frankreich und dem Deutschen Reich. Wo das kaufmännische Verständnis und ein glückliches Händchen für die Darbietungen fehlten, da ging allerdings ein eben erst gegründeter Laden auch schnell wieder kaputt. Aber der Szeneschwung hielt. Zunächst.
Die Entwicklung in Deutschland
Charakteristisch für die junge Kunstform wird, wie zuvor in Paris, das Kneipenbrettl, die Bühne der so genannten ‚Vaganten‘. Mit ihm verwirklicht sich der Traum der Künstler-Bohème: Die Präsentation der eigenen Werke, frei und abseits des etablierten Kunstbetriebs. Man ist fasziniert von der Unmittelbarkeit dieser Kunstform auf der Bühne: Theater spielte dem Publikum etwas vor, im Kabarett spielt man das Publikum direkt an! Gagen für die Mitwirkenden waren dabei eher selten. Die meisten wurden in Naturalien bezahlt. Oder es wurde gesammelt.
Apropos Vagantendichtung: Deren Vorbilder und Wurzeln reichen tief ins Mittelalter. Moralisch-satirische Dichtungen, Liebes- und Trinklieder der so genannten „Erzpoeten“. In Hanns Dieters ‚Arche Nova‘ wurde gleich im ersten Programmheft die Rolle des ‚Archipoeta‘ mit einem seiner Lieder aus dem zwölften Jahrhundert gewürdigt. Die bedeutendste Sammlung, rund dreihundert Lieder‚ 1803 im Kloster Benediktbeuren entdeckt und als „die Lieder aus Beuren“ bezeichnet, erlangten Weltruhm durch die neue Vertonung: Carmina Burana. Vagantendichtung als extravagantes Oratorium. Zeitlos geworden durch Carl Orffs grandiose Musik.
Die Entwicklung des Kabaretts und des Kneipenbrettls zeigte eine neue Form der künstlerischen Ausdrucksweise, die weit über die traditionellen Theaterformen hinausging. Diese direkte Interaktion mit dem Publikum und die Möglichkeit, gesellschaftliche und politische Themen unmittelbar und unverblümt anzusprechen, machten das Kabarett zu einer einzigartigen und dynamischen Kunstform. Die Wurzeln im Mittelalter und die Weiterentwicklung durch Künstler wie Carl Orff zeigen die zeitlose Relevanz und den kulturellen Einfluss dieser Kunstform, die bis heute begeistert und inspiriert.
Eine zeitgebundene Erscheinung dagegen ist die Künstlerbohème selbst. So leben die neuen Kleinkunstbühnen vom und für den Augenblick. Langfristig erfolgreich ist allein der Münchener Simplicissimus. Von einer sehr passablen Conferencière geleitet, die vor allem eine geniale Geschäftsfrau war: Kathi Kobus gelingt die Symbiose von Kunst und Kommerz. Fünfundsechzig Jahre lang, von 1903 bis 1968 besteht der Simpl – ein Zeitraum, den bis heute keine andere deutsche Kabarettbühne erreicht hat. Und wer dort alles vor dem ersten Weltkrieg verkehrte?! Gott und die Welt und Münchens Schickeria! Touristen aus Übersee, der Prinz von Wales. Zar Ferdinand von Bulgarien. Der belgische König! Industriekapitäne, Geldaristokraten. Wilhelm Voigt, der Schumacher, der als ‚Hauptmann von Köpenick‘ Karriere gemacht, lässt sich im Simpl für Geld sehen und verkauft seine Autogramme. Und ein gewisser Hans Bötticher. Erst Dauergast, dann Hausautor, wurde er berühmt als: Joachim Ringelnatz.
Einer der ersten Kabarettstars in Deutschland war Otto Reutter, dessen Couplets inzwischen 100 Jahre überdauert haben. Die strenge Theaterzensur im Kaiserreich sorgte dafür, dass im Kabarett des beginnenden 20. Jahrhunderts jegliche Form der öffentlichen Kritik verboten war. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Zensur auf Theater und Kabarettprogramme aufgehoben, und die Kabarettisten konnten ab 1919 auf die aktuellen politischen Entwicklungen und die soziale Situation der Menschen eingehen. In dieser Zeit blühte das deutsche Kabarett erstmals auf und brachte neben Otto Reutter, der bis 1931 sein Alterswerk schuf, so unterschiedliche Künstler wie Claire Waldoff oder Werner Finck hervor.
Das ‚Goldene Buch der Katakombe‘ befindet sich im Besitz des Deutschen Kabarettarchivs. Der aus Görlitz stammende Finck war in der Weimarer Republik nach Berlin gekommen und gründete 1929 mit Tibor Kasics die Kabarettbühne ‚Die Katakombe‘, das relativ unpolitisch begann, aber immer stärker gegen die braune Gefahr Stellung bezog. In diesem Gästebuch der Katakombe ist ein launiger Spruch von Joachim Ringelnatz ebenso enthalten wie eine Originalzeichnung von Walter Trier, der die Bücher Erich Kästners illustrierte.
Signaturen und Sprüche von Hans Albers bis Carl Zuckmayer, von Klaus und Heinrich Mann, Walter Hasenclever und George Grosz, Max Reinhardt, Erich Mühsam, Gustav Gründgens, von Luigi Pirandello und Erwin Picator bis Alfred Döblin und Richard Huelsenbeck. Letzterer fand die Dada-Formel des Kabaretts: „Dada ist das Cabaret der Welt, so gut wie die Welt, das Cabaret, Dada ist.“ Im ‚Cabaret Voltaire‘ in Zürich erfand Hugo Ball jene literarische Form als Provokation gegenüber der Gleichgültigkeit der bürgerlichen Welt angesichts der Grauen des großen Krieges.
in Zeiten nationalsozialistischer Gewaltherrschaft
1932, ein Jahr vor Hitlers Machtübernahme, steht Werner Finck verlegen lächelnd auf der Bühne und blickt nach vorn. Er stellt sich vor, was passieren wird, wenn die Nazis ans Ruder kommen und prophezeit: „In den ersten Wochen des Dritten Reichs werden Paraden abgehalten. Sollten diese Paraden durch Regen, Hagel oder Schnee verhindert werden, werden alle Juden in der Umgebung erschossen.“ — Diese Pointe, das sollte sich bald zeigen, war keine. Als die Nazis an der Macht sind, versucht Finck, den Witz als Widerstand zu leben.
Hunderte von Kabarettisten und Satirikern verbrachten das tausendjährige Reich im KZ. Stellvertretend sei erinnert an Künstler, die auf dem Walk-of-Fame des Kabaretts mit einem Satire-Stern ausgezeichnet wurden: Erich Mühsam, Fritz Grünbaum und Kurt Gerron. Ermordet in Oranienburg, Dachau und Auschwitz. Der 10. Mai 1933 war der Tag, an dem in Berlin und später andernorts die Bücher brannten; in Mainz am 23. Juni. Diese Ereignisse markierten den Beginn einer brutalen Unterdrückung der künstlerischen Freiheit und der Meinungsäußerung durch das NS-Regime.
Was politisch-literarisches Kabarett in den Jahren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft trotz allem sein konnte, beschrieb Sebastian Haffner in seinen posthum erschienen Erinnerungen: „Geschichte eines Deutschen“. Trotz der extremen Repression durch das Regime fanden einige Kabarettisten Wege, ihre kritischen Stimmen zu erheben und Widerstand zu leisten. Das Kabarett diente als subversives Mittel, um die Grausamkeiten und Absurditäten der Diktatur zu kommentieren und zu kritisieren, oft unter Lebensgefahr.
Nach dem 8. Mai 1945 beginnt eine wahre Renaissance des Kabaretts. Die Besatzungsmächte sorgten dafür, den Deutschen die Gräuel der nationalsozialistischen Herrschaft näher zu bringen. Zur „Umerziehung“ gehörte auch das kulturelle Leben. So halfen die Kulturoffiziere der Militärregierungen dabei, Theater und Kabarett in Gang zu bringen und neue sowie bisher verbotene Stücke auf die Bühne zu bringen. In ‚Trizonesien‘ singt man trotzig-melancholisch: Hurra, wir leben noch.
Im Düsseldorfer ‚Kom(m)ödchen‘ setzt das Kabarett neue Maßstäbe im politisch-literarischen Anspruch. Erich Kästner beginnt in München wieder zu schreiben, und mit Günter Neumanns ‚Insulanern‘ funkt das Kabarett mittels RIAS-Berlin in den Kalten Krieg hinein. Es trommelt mit Wolfgang Neuss die Folgen der Verdrängung und der Wirtschaftswunderjahre ins bundesdeutsche Bewusstsein und feiert mit der ‚Münchner Lach- und Schießgesellschaft‘ und den Berliner ‚Stachelschweinen‘ bald telegen Silvester. So wird das Kabarett einem breiten bürgerlichen Publikum bekannt. Damals hat das Fernsehen politisches Kabarett groß gemacht.
In der DDR richtete sich das Kabarett über vier Jahrzehnte mehr oder weniger mühelos in den Grenzen der real existierenden Zensur ein, im Zweifel von der besseren Sache des Sozialismus überzeugt. Ein Kapitel für sich. Mit Franz-Josef Degenhardt singt das Kabarett im Westen in den Sechzigern gegen den Vormarsch der Neonazis an, agitiert mit der APO (Außerparlamentarische Opposition) in die aufgewühlten siebziger Jahre hinein und erklärt am Ende durch Hanns Dieter Hüschs ‚Hagenbuch‘ alle und alles für krank und verrückt.
Diese Epoche des Kabaretts zeigt eindrucksvoll, wie eng die Kunstform mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft ist. Das Kabarett diente als Ventil für den Unmut über gesellschaftliche Missstände und als Plattform für den politischen Diskurs. Es war und ist ein Spiegel der jeweiligen Zeit, der sowohl kritisiert als auch zum Nachdenken anregt.
Ein Blick auf die Kabarettgeschichte
In der ARD verblieb einzig die Sendung „Scheibenwischer“ (mit Bruno Jonas und Mathias Richling) im Programm bzw. die Nachfolge-Sendung unter dem Titel „Satire Gipfel“ mit Mathias Richling, seit 2011 mit Dieter Nuhr unter dem Namen „nuhr im Ersten“. Das ZDF zeigte von Januar 2007 bis Oktober 2013 die Sendung „Neues aus der Anstalt“ mit Urban Priol, Georg Schramm (Folgen 1–36) und Frank-Markus Barwasser (Folgen 37–62). Seit dem 4. Februar 2014 präsentiert das ZDF die Nachfolge-Sendung „Die Anstalt“ mit Max Uthoff und Claus von Wagner, wortgewandt, unkonventionell und mit viel satirischer Schärfe. Seit September 2015 läuft im ZDF zudem die Kabarett-Late-Night-Show „Mann, Sieber!“ mit Christoph Sieber und Tobias Mann, die im September 2020 eingestellt wurde.
Die dritten Programme senden regelmäßig Kabarett („Quer“, bis 2012 „Ottis Schlachthof“ und seit März 2013 „schlachthof“ im BR, „Mitternachtsspitzen“ im WDR, „Extra 3“ im NDR oder „Richling – Zwerch trifft Fell“ sowie „Spätschicht – Die Comedy Bühne“ im SWR). Im 3sat lief von 2004 bis 2007 die Sendung „alles muss raus“ mit Urban Priol.
Kabarett verändert sich. Paradigmenwechsel allenthalben. Aber das war immer so, im Laufe der Zeiten. Alles hat seinen Ausgangspunkt, seinen Übergang, seinen Verlauf. Und irgendwann seine Kulturgeschichte – die wir im Deutschen Kabarettarchiv dokumentieren dürfen. Es ist noch lange nicht die Endzeit gekommen für politische Tiefenschärfe, Sehnsucht und Engagement, Poesie und Experiment auf der Kabarettbühne, wie es von den ewig Gestrigen gerne prophezeit wird.
Dass mit Kabarett und Comedy Geld verdient wird – Geld verdient werden muss – versteht sich von selbst. Dass Kabarett und Comedy auch durch die sozialen Medien schneller, einfacher und vielleicht auch oberflächlicher verfügbar und konsumierbar sind, ist Fluch und Segen zugleich. Aber das literarische, philosophische und politische Element, die Freiheit der darstellenden Kunst für Haltung und Standpunkt, für Aufklärung und Erregung, für Phantasie und Wirklichkeit wird dadurch nicht zur Tabuzone oder stirbt gar aus. Kabarett verändert sich einfach nur. Zeigt sich vielschichtig und variabel.
„Die Geschichte eines Deutschen“
Es spricht freilich auch ein wenig gegen uns, dass wir mit dem Erlebnis der Todesangst und der letzten Ausgeliefertheit nichts Besseres anzufangen wussten als es, so gut wir konnten, zu ignorieren und uns in unserm Vergnügen nicht stören zu lassen. Ich glaube, ein junges Paar von vor hundert Jahren hätte mehr daraus zu machen gewusst – sei es selbst nur eine große Liebesnacht, gewürzt von Gefahr und Verlorenheit.
Wir kamen nicht darauf, etwas Besonderes daraus zu machen, und fuhren eben ins Kabarett, da uns keiner daran hinderte: erstens weil wir es sowieso getan hätten, zweitens, um so wenig wie möglich an das Unangenehme zu denken. Das mag sehr kaltblütig und unerschrocken aussehen, ist aber wahrscheinlich doch ein Zeichen einer gewissen Gefühlsschwäche und zeigt, dass wir, wenn auch nur im Leiden, nicht auf der Höhe der Situation waren. Es ist, wenn man mir diese Verallgemeinerung hier schon gestatten will, überhaupt einer der unheimlichsten Züge des neuen deutschen Geschehens, dass zu seinen Taten die Täter, zu seinen Leiden die Märtyrer fehlen, dass alles in einer Art von halber Narkose geschieht, mit einer dünnen, kümmerlichen Gefühlssubstanz hinter dem objektiv Ungeheuerlichen: dass Morde begangen werden aus der Stimmung eines Dumme-Jungen-Streichs, dass Selbsterniedrigung und moralischer Tod hingenommen werden wie ein kleiner störender Zwischenfall, und selbst der physische Martertod nur ungefähr bedeutet „Pech gehabt“.
Wir wurden indessen für unsere Indolenz an diesem Tage über Gebühr belohnt, denn der Zufall führte uns gerade in die Katakombe, und dies war das zweite bemerkenswerte Erlebnis dieses Abends. So kamen wir an den einzigen öffentlichen Ort in Deutschland, wo eine Art Widerstand geleistet wurde – mutig, witzig und elegant geleistet wurde. Vormittags hatte ich erlebt, wie das Preußische Kammergericht mit seiner vielhundertjährigen Tradition ruhmlos vor den Nazis zusammenbrach. Abends erlebte ich, wie eine Handvoll kleiner Berliner Kabarettschauspieler ohne alle Tradition glorreich und mit Grazie die Ehre rettete. Das Kammergericht war gefallen. Die Katakombe stand.
Der Mann, der hier sein Fähnlein von Schauspielern zum Siege führte – denn jedes Feststehen und Haltung bewahren angesichts der morddrohenden Übermacht ist eine Art Sieg – war Werner Finck. Dieser kleine Kabarett-Conférencier hat ohne Zweifel seinen Platz in der Geschichte des Dritten Reichs – einen der wenigen Ehrenplätze, die darin zu vergeben sind. Er sah nicht aus wie ein Held, und wenn er schließlich doch beinah einer wurde, dann wurde er es trotz allem.
Finck war kein revolutionärer Schauspieler, kein beißender Spötter, kein David mit der Schleuder. Sein innerstes Wesen war Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit. Sein Witz war sanft, tänzerisch und schwebend; sein Hauptmittel der Doppelsinn und das Wortspiel, in dem er allmählich ein Virtuose wurde. Er hatte etwas erfunden, was man die „versteckte Pointe“ nannte – und freilich tat er je länger je mehr gut daran, seine Pointen zu verstecken. Aber seine Gesinnung versteckte er nicht.
Finck blieb ein Hort der Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit in einem Lande, wo gerade diese Eigenschaften auf der Ausrottungsliste standen. In dieser Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit saß als „versteckte Pointe“ ein wirklicher, unbeugsamer Mut. Er wagte es, über die Wirklichkeit der Nazis zu sprechen – mitten in Deutschland. In seinen Conférencen kamen die Konzentrationslager vor, die Haussuchungen, die allgemeine Angst, die allgemeine Lüge; sein Spott darüber hatte etwas unsäglich Leises, Wehmütiges und Betrübtes und eine ungewöhnliche Trostkraft.
Dieser 31. März 1933 war vielleicht sein größter Abend. Das Haus saß voller Leute, die in den nächsten Tag wie in einen offenen Abgrund starrten. Finck machte sie lachen, wie ich nie ein Publikum lachen gehört habe. Es war ein pathetisches Lachen, das Lachen eines neugeborenen Trotzes, der Betäubung und Verzweiflung hinter sich ließ, und die Gefahr half dieses Lachen nähren – war es nicht fast ein Wunder, dass die SA nicht schon längst hier war, um das ganze Haus zu verhaften? Wahrscheinlich hätten wir an diesem Abend noch auf dem Grünen Wagen weitergelacht. Wir waren auf eine unwahrscheinliche Weise über Gefahr und Angst hinweggehoben.
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