Wer schmeißt denn da mit Lehm?
Claire Waldoff, 1913
Ihr Lied von 1913 ist aktueller denn je. Die deutsche Sängerin und Kabarettistin Claire Waldoff
(* 21. Oktober 1884 Gelsenkirchen; † 22. Januar 1957 Bad-Reichenhall) wollte damit zu mehr Friedlichkeit unter den Zeitgenossen aufrufen.
„Wer schmeißt denn da mit Lehm?“
Die Menschen heutzutage sind alle so nervös.
Über jede kleine Kleinigkeit da werden sie giftig bös.
Schimpft einer auf den andern,
Dann sing ich voll Humor,
Damit er nicht mehr schimpfen soll,
Mein kleines Liedchen vor:
Wer schmeißt denn da mit Lehm,
Der sollte sich was schäm‘!
Der sollte auch was ander’s nehm‘
Als ausgerechnet Lehm.
Die rebellische Göre vom Niederrhein
Claire Waldoff zog mit Anfang 20 nach Berlin und prägte die Kabarettszene mit ihrem Sinn für Komik und Frechheit. Sie fragte laut, wer denn da mit Lehm schmeißt, und überzeugte auch mit dem leisen Lied der Harfenjuhle. Ihr politisches Credo lautete griffig: „Raus mit den Männern aus dem Reichstag!“. Sie wurde von Arbeitern und Intellektuellen gleichermaßen gefeiert. Über das Radio erreichte ihre markante Stimme in den 1920er Jahren jeden fünften deutschen Haushalt. Sie trat in den zwei größten Varietés Berlins, der Scala und dem Wintergarten auf und unternahm Tourneen durch Deutschland.
Zensur, Feminismus und der Rückzug ins Private
Der Inhalt ihrer Lieder, ihr Auftreten auf der Bühne mit Hemdbluse, Schlips und kurzen Haaren und ihre lesbische Beziehung zu ihrer großen Liebe, Olly von Roeder, standen jedoch im Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie. Nach dem Krieg erlebte sie kein Comeback – ihre Couplets wirkten gegen die neuen amerikanischen Schlager veraltet, und eine Volkssängerin galt als anachronistisch. In den wenigen Nachkriegsinterviews erschien Waldoff gebrochen und verbittert, gezeichnet von Schlaganfällen. Eine Rückkehr nach Berlin war unmöglich, da ihre Wohnung zerbombt war. Verarmt verbrachte sie ihre letzten Jahre mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin in Bayern, wo sie 1957 völlig verarmt verstarb.
Aber sie blieb unvergessen. Sich nicht verbiegen, egal, was die Konventionen vorgeben: Dazu hat Claire Waldoff stets ermutigt. Darin lag und liegt ihre Kraft – bis heute.
In herausfordernden Zeiten ist es wichtiger denn je, dass wir als Gesellschaft zusammenstehen. Mehr Friedlichkeit unter den Menschen beginnt mit Respekt und Verständnis füreinander. Die Gefährdung der Demokratie durch Rechtsradikalismus, Antisemitismus, Kriege, Inflation und auch die Umweltverschmutzung sind Schatten, die unsere Welt bedrücken. Doch es liegt in unserer Macht, dem Licht Raum zu geben.
So wie es Kabarettisten und Kabarettistinnen schon immer taten: Mit Humor und scharfsinniger Beobachtung zeigen sie die Missstände der Gesellschaft und Politik auf und regen ihr Publikum zum Nachdenken an. Kabarettistinnen wie Claire Waldoff haben trotz widriger Umstände und politischer Verfolgung nie aufgehört, ihre Stimme zu erheben, unabhängig zu leben und ihre Ansichten auszusprechen. Ihre Arbeit erinnert uns daran, wie wichtig es ist, sich auch in schwierigen Zeiten für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit einzusetzen. Kabarett lebt von der Vielfalt der Gedanken und dem respektvollen Umgang miteinander. Das Genre inspiriert uns, Brücken zu bauen und für eine Welt einzutreten, in der Frieden und Respekt voreinander im Vordergrund stehen.
Seit Jahrzehnten prägt z.B. Gerhard Polt als gesellschaftskritischer Künstler das deutsche Kabarett. Sein Ratschlag, nur über die Zuneigung kann man Dinge klarer sehen
, sollte – auch wenn´s manchmal wirklich schwer fällt – Maxime für das gesellschaftliche Miteinander sein.
Gedanken von Martina Keiffenheim, Archivleiterin